Vom Ende der Welt
Jesus spricht vom Ende der Welt. Was genau wusste er vom Weltende? Unter Wissen versteht man im Zeitalter der exakten Wissenschaften: Ein Phänomen kann im Koordinatensystem von Raum und Zeit genau beschrieben, durch Experiment und mit mathematischer Klarheit erfasst, gespeichert und wiedergegeben werden. Wissen heißt Bescheid wissen. Wissen ist Macht. Wir hörten aus dem Mund Jesu den Satz: „Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.“
Jesus redet hier von seinem Nichtwissen. Mehr noch: Er redet von seiner prinzipiellen Unfähigkeit als Sohn, um dieses Geschehen zu wissen. Nur sein Vater weiß darum. Er selbst kann weder über den Zeitpunkt noch den Ablauf der Endereignisse Auskunft geben. Verfinsterung von Sonne und Mond, Erschütterung des Himmels und Herabfallen der Sterne sind Metaphern für etwas, was sich jeglicher Beschreibung entzieht. In der Gesamtbewertung kommt man zum Ergebnis: Jesus hatte vom Weltende kein Wissen im Sinne unserer Vorstellung von Wissen. Doch spricht aus seinen Worten eine ungeheure Gewissheit, ein sicheres Wissen aus der Tiefe. „Dann wird man den Menschensohn in Wolken kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit … Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ Er weiß um Zeit und Ewigkeit, er weiß um seine Rolle im Wandel der Zeiten und beim Übergang des Zeitlichen ins Ewige. Was ist das für eine schier unglaubliche Gewissheit? Zunächst ist es die ganz nüchterne Einsicht, dass Himmel und Erde vergehen werden.
Das weiß im Grunde jeder. Aber es ist ein großer Unterschied, darum nur im Kopf zu wissen oder mit seiner gesamten Existenz die Vergänglichkeit von allem anzuerkennen. Der Tod ist zwar eine sichere Tatsache am Lebensende, doch wir verdrängen ihn gewöhnlich. Furchtbare Terroranschläge, Naturkatastrophen, Unfälle oder tödliche Krankheiten im näheren Umfeld machen uns drastisch klar: Himmel und Erde können auch für mich plötzlich zusammenbrechen. Ich bin vergänglich.
Im Tiefenwissen Jesu berührt sich ein Paradox: Die Vergänglichkeit von allem steht ihm klar vor Augen, aber auch das Wissen um das, was die Zeit überdauert und ewig bleibt. Er ist sich auch bewusst, dass das Ende ein universales Geschehen sein wird, „vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels“. Er lebt sowohl aus einer Vision für das Ganze als auch aus einer fraglosen Klarheit über seine eigene Identität. Wie kommt Jesus als Mensch zu dieser Tiefengewissheit? Was die Endzeit kennzeichnet, ist die Erschütterung von allem. Im Johannesevangelium gibt es vor der Passion mitten in einer Rede Jesu eine Art Getsemani-Szene: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen“ (Joh 12, 27f). Der Vater antwortet ihm: Ich bin mit dir, auch und gerade in der Erschütterung, die dich packen und durchrütteln wird. Das ist die Grunderfahrung Jesu: Ich bin nie allein. In allem, selbst im Schrecklichen, ist mir der Vater nahe. Das ist das Geheimnis seines Lebens. Das ist seine Tiefengewissheit, die ihn durch sein Leben und durch den Tod getragen hat.
Von Lebensträumen
Der Lebenstraum Jesu erfüllte sich nicht. Er wollte ganz Israel seinem Vater zuführen. Das bekehrte Israel sollte Vorbild und einladendes Zeichen für alle Völker sein. Dieser große Traum wurde schwer erschüttert und „durchkreuzt“. Durch Erschütterung und Angst hindurch ging Jesus auf den Tod zu. Im Tod muss sich jeder Mensch ganz aus der Hand geben. In vielen Biogra-fien herausragender Christinnen und Christen finden wir dieses Erfahrungsmuster: Durch Erschütterungen hindurch zum Grund der Wirklichkeit durchzustoßen.
Ich denke an Edith Stein, die agnostische Jüdin, die eine glänzende philosophische Karriere vor sich hatte, deutschnational dachte, ihrem Lehrer Husserl nach Freiburg folgte, 1916 ihre Doktorarbeit abschloss und erkannte, dass man sie als Frau in der universitären Männerwelt nicht hochkommen ließ. Zur gleichen Zeit erlebt sie die letzte Phase des Ersten Weltkrieges mit der bevorstehenden Niederlage. Ihre heile Vorkriegswelt bricht zusammen. Sie verliebt sich in einen Mitstudenten, der ihre Liebe nicht erwidert. Sie weiß, es liegt auch an ihrer Verhaltenheit und intellektuellen Prägung. Sie gerät in eine tiefe Krise. 1925 wird sie im Rückblick darauf an den polnischen Philosophen Roman Ingarden schreiben: „Mir ist in Freiburg eine lange vorbereitete Krisis geschehen. Mir ist dann etwa so wie einem, der in Gefahr war zu ertrinken, und dem nachher im hellen, warmen Zimmer, wo er ganz geborgen ist, und rings umgeben von Liebe und Fürsorge und hilfreichen Händen, auf einmal das Bild des dunklen, kalten Wellengrabes vor der Seele steht. Was soll man dann anderes fühlen als Schauder, und dazu eine grenzenlose Dankbarkeit gegen den starken Arm, der einen wunderbar ergriffen und ans sichere Land getragen hat.“ Sie war völlig am Ende und hatte eine entscheidende Lebenswende erfahren. Ein geheimnisvoller starker Arm hatte sie gerettet. Fünf Jahre nach der Krise von 1917 geschah ihre endgültige Hinkehr zum christlichen Glauben. Der wechselvolle innere Prozess der heiligen Teresa von Ávila hatte ihr den letzten Anstoß dazu gegeben, die Wahrheit zu finden, die Wahrheit von Zeit und Ewigkeit, verdichtet in der Gestalt des Gekreuzigten.
Um Tiefengewissheit zu finden
Um Tiefengewissheit zu finden, müssen auch wir uns den erschütternden, schmerzhaften und läuternden Wandlungsprozessen des Lebens aussetzen. Die Endzeitrede Jesu umkreist das ganz und gar Unfassbare. Gleichzeitig weiß er darin um seine Rolle, denn er hat sich dem eigenen Dunkel und Untergang so ausgeliefert, dass ihm am tiefsten Punkt seiner Angst das Licht Gottes als innere Gewissheit zuteilwurde. Lukas und Johannes haben in ihren Evangelien das feste Vertrauen Jesu beim Sterben in die Worte gefasst: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46) und „Es ist vollbracht“ (Joh 19,28).
Es ist für Jesus sehr bezeichnend, dass er mitten in der Endzeitrede, wo es ums Ganze und Letzte geht, ein alltägliches Bild bringt, den Feigenbaum; nicht den Feigenbaum, der abstirbt, sondern den fruchtbaren Feigenbaum im Sommer. Damit teilt er eine weitere Gewissheit über das Weltende mit: Es wird wie Sommer und Ernte sein. Für uns heißt das, täglich auf die Lebensernte hin zu leben und dabei der Hoffnung Raum zu geben, dass Gott uns für das Glück erschaffen hat, das wir einmal in Fülle genießen dürfen. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ Ich vermute, Markus will seiner Gemeinde vor allem diesen Satz ins Herz schreiben: Wendet euch immer wieder den Worten Jesu zu, vertieft euch in sie, betrachtet sein Leben, wie er das Beschwerliche und Erschütternde, wie er Leiden und Tod durchgestanden und der Gott des Lebens ihn auferweckt hat. Wenn wir immer in der Gegenwart Christi leben, brauchen wir nicht täglich mit dem Weltende zu rechnen. Dann sind wir immer mit dem verbunden, dem wir am Ende begegnen werden.
Karl Kern
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